Nachruf auf Doğan Akhanlı: Seine Literatur fehlt dringend in deutschen Buchhandlungen

„Ich zum Beispiel wurde im Alter von 18 Jahren festgenommen, weil ich an einem Kiosk eine damals linke Zeitung, die heute rassistische Positionen vertritt, kaufte. Elf Tage wurde ich „befragt“; fünf Monate war ich dann im Gefängnis Toptasi. Als ich auf freiem Fuß gesetzt wurde, hatte ich nicht nur die Aufnahmeprüfung für die Universität verpasst, sondern mir waren auch viele Wege versperrt, die mir das Leben hätte bieten können.“

(Doğan Akhanlı, „Die Fremde und eine Reise im Herbst“)

 

Nachrichten wie diese treffen einen unvermittelt und wie ein Blitz. Doğan Akhanlı, unbeugsamer Menschenrechtler, preisgekrönter Friedensstifter, ein großartiger Schriftsteller und liebenswürdiger Mensch, verstarb am 31.10.2021 im Alter von nur 64 Jahren überraschend nach kurzer schwerer Krankheit. Mit ihm geht ein guter Freund, ein guter Kollege und ein Schriftsteller, der in der Welt einen Unterschied macht. Mit ihm stirbt ein Bestsellerautor in der Türkei, der in Deutschland überraschenderweise bis heute weitgehend unentdeckt ist. Viele seiner Werke sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Es wird höchste Zeit. Denn dieser Schriftsteller hat etwas zu sagen. Er verwebt Geschichte und Versöhnung in ästhetisch großartiger Literatur. Mit ihm stirbt ein in Deutschland noch immer junger Autor, dessen Literatur so aktuell und jung bleibt, wie die Gegenwart.

1957 in einem kleinen Dorf im Nordosten der Türkei geboren, wurde er mit 17 Jahren im Jahre 1975 zum ersten Mal verhaftet, weil er eine politische Zeitung, die linke Standpunkte vertrat, kaufte. Ab diesem Zeitpunkt begann er sich politisch zu engagieren und bewirkte damit letztlich genau das Gegenteil von dem, was die türkische Staatsgewalt bezweckte. Er wurde Mitglied der verbotenen Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei (TDKP) und bot den Antidemokraten damit die Stirn. Später studierte er Geschichte und Pädagogik. Im Mai 1985 wurde er ein zweites Mal inhaftiert, diesmal für zweieinhalb Jahren im Militärgefängnis in Istanbul. Mit ihm wurde auch seine Frau Ayse und sein 16 Monate alter Sohn verhaftet.  

In dieser Zeit machte Doğan Akhanlı seine ersten Foltererfahrungen, die er später auch literarisch verarbeitete. Im Gefängnis begann er, sich mit dem Dogmatismus und dem autoritären Geist einer marxistisch-leninistischen Gruppierung und ihrem Verhältnis zur Gewalt auseinanderzusetzen, der er sich im Untergrund angeschlossen hatte. Nach seiner Freilassung begann er ein zurückgezogenes Leben als Instrumentenbauer und Fischer in Izmir. Aus ihm wurde ein engagierter, individualistischer Intellektueller, der sich den Fragen der Geschichte und der Zeit stellte.

Mit dem Schreiben begann er im deutschen Exil. Im Jahre 1991 kam er als politischer Flüchtling nach Deutschland. Zunächst lebte er in einem Asylaufnahmeheim in Bergisch Gladbach. Später zog er nach Köln, wo alsbald seine literarischen Werke Aufmerksamkeit erlangten. Denn er war einer der wenigen Türken, die über den Armenischen Völkermord schrieben und diesen literarisch verarbeitete. In der Türkei avancierten seine in den Folgejahren verfassten Werken zu literarischem Ruhm. In seinen Werken setzte er sich mit dem Genozid und Gewalt auseinander. Er geriet dadurch, so wie viele andere kritische Schriftsteller in der Türkei (z.B. Pinar Selek), alsbald ins Visier der türkischen Staatsmacht. 

 

1998 bürgerte die Türkei ihn aus, weil er sich geweigert hatte, heimzukehren und dort seinen Militärdienst abzuleisten. 2001 wurde er deutscher Staatsbürger. Als er im Jahre 2010 seinen todkranken Vater in der Türkei besuchen wollte, wurde er bei seiner Einreise festgenommen. Die türkischen Behörden beschuldigten ihn, im Jahre 1989 angeblich an einem Raubüberfall auf eine Wechselstube teilgenommen zu haben. Eine Beteiligung an dem Raubüberfall wies er stets zurück. Beweise für diese fadenscheinigen Anschuldigungen gab es keine. Er wurde wieder freigelassen. Offensichtlich sollte er eingeschüchtert werden.

Im Jahre 2013 begehrte der türkische Staat jedoch erneut auf, indem er den Freispruch wieder annullieren wollte und das Verfahren erneut aufrollte, obwohl es keine neuen Erkenntnisse oder Beweise gegeben hatte. 

Eine 20-köpfige Delegation aus Deutschland, unter ihnen der Schriftsteller Günter Wallraff, Vertreter verschiedener Parteien, Beauftragte zahlreicher Gewerkschaften, Menschenrechts-, Künstler- und Schriftstellerorganisationen (darunter auch der BVjA), sowie das deutsche Konsulat in Istanbul, beobachteten den Gerichtsprozess damals am Landgericht Istanbul.

Schlussendlich entschied sich Doğan Akhanlı, nicht mehr in die Türkei einzureisen. Im Jahre 2017, mitten im deutschen Bundestagswahlkampf, holte ihn der türkische Haftbefehl dennoch wieder ein, als er Urlaub in Spanien machte. Die Türkei hatte internationale Verträge missbraucht und ihn über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Der breiten Öffentlichkeit wurde er damals dadurch bekannt. In dieser Zeit wurden viele Kritiker des Erdogan-Regimes in der Türkei inhaftiert. Akhanlı wurde festgenommen, weil die spanischen Behörden das türkische Festnahmeersuchen fälschlicherweise ernst nahmen. Die deutsche Diplomatie unter ihrem damaligen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel schaltete sich erfolgreich ein. Für einige Wochen avancierte die Menschenrechtslage in der Türkei auch zu einem deutschen Bundestagswahlkampfthema. Seine Erinnerungen in dieser Zeit schrieb Doğan Akhanlı in seinem Essayband „Verhaftung in Granada“ nieder. Das Werk kann zugleich als eine Autobiographie gelesen werden, das die Geschichte der Türkei im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart thematisiert. Mit dem Werk ist ihm ein Plädoyer für ein aufrichtiges Leben geglückt, eine Versöhnungsliteratur.

2018 erhielt Doğan Akhanlı den Europäischen Toleranzpreis für Demokratie und Menschenrechte. Im Folgejahr erhielt er die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts in Weimar.

Doğan war Referent und Gastredner von vielen Initiativen gegen das Vergessen und für Demokratie und Menschenrechte.

Akhanlı leitete deutsch-türkischen Führungen im ehemaligen Gestapogefängnis in Köln. sprach mit türkischen Jugendlichen über die Verfolgung der Juden während des Nationalsozialismus und hielt Vorträge über „Antisemitismus in der Einwanderergesellschaft“. In Berlin rief er das Projekt „Flucht-Exil-Verfolgung“ ins Leben. Er engagierte sich zudem im türkischen Menschenrechtsverein Tüday, beim Allerweltshaus und in der jüdischen Raphael-Lemkin-Bibliothek in Köln sowie als Mitarbeiter des Vereins »Recherche International«.

Im Jahre 2012 war er Referent auf der vom BVjA veranstalteten Tagung „Aus Versehen politisch“ in Loccum (Niedersachsen). In den Folgejahren veranstaltete der Verfasser dieser Zeilen mit ihm Lesungen für Amnesty International und blieb ihm und seiner Literatur sehr verbunden.

 

 

Bis auf sein einziges Theaterstück („Annes Schweigen“), das er auf Deutsch verfasste, schrieb er alle seine Werke in türkischer Sprache. Bis heute liegen nur vier Werke von ihm in deutscher Übersetzung vor, darunter sein Roman „Der Richter des Jüngsten Gerichts“, das mittlerweile vergriffen ist. 2019 erschien endlich sein Roman „Der letzte Traum der Madonna“ auch im Deutschen. Hier verband er die türkische Literaturgeschichte mit dem Schicksal des 1948 ermordeten linken türkischen Schriftstellers Sabahattin Ali und die Trägodie des 1942 mit 700 jüdischen Flüchtlingen versenkten Schiffes „Struma“. 

 

Deutsche Verlage: Entdeckt ihn endlich

 

Es ist geradezu absurd: Viele seiner Werke sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden, obwohl sie in der Türkei auf den Bestsellerlisten standen. In Deutschland blieb seine einfühlsame und ästhetisch großartige Literatur zum Teil unentdeckt. Etwa seine ersten beiden Romanen »Denizi Beklerken« (»Warten auf das Meer«) und »Gelincik Tarlası« (»Das Mohnblumenfeld«), in denen er seine bewegten Jahre und politischen Ereignisse in der Türkei in den Siebziger- und Achtzigerjahren verarbeitete. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) würdigte ihn in einem Nachruf jüngst als literarisch bedeutend, »weil er das Eingreifen von Gewalt in die Zeitstrukturen, die uns alle betreffen, ästhetisch umsetzt.«

Bis heute ist auch sein Roman »Fasıl«, in dem er einen Folterer über dessen Hingabe zur klassischen türkischen Musik mit seinem Opfer in ein Gespräch verwickelt, nicht ins Deutsche übersetzt worden. Darüber wundert sich nicht nur die SZ in ihrer Ausgabe vom 01.11.2021. Denn es ist wahrlich geradezu unverständlich, dass genau solche Literatur, die den Unterschied macht, in deutschen Buchhandlungen fehlt. 

Und so bleibt Doğan Akhanlı mit seinen für die heutige Zeit überaus relevanten und wichtigen Büchern, die in der Türkei Bestsellerstatus haben, in Deutschland ein junger Autor, auf den namhafte Verlage hoffentlich schnell endlich aufmerksam werden. Wenigstens sein Werk „Madonnas letzter Traum“ steht momentan in Köln im Theater am Bauturm in einer Bühnenfassung auf der Bühne.

Theatermacher: Bringt „Annes Schweigen“ auf die Bühne

Es wird höchste Zeit, dass weitere Übersetzungen und Bühnenfassungen seines reichhaltigen literarischen Oeuvres in deutschen Buchhandlungen folgen. Auch das Theaterstück „Annes Schweigen“ gehört auf noch viel mehr Bühnen, als die in Köln und Berlin, auf denen es schon gespielt wurde.

Seine Literatur soll das deutschsprachige Lese- und Theaterpublikum tief berühren. Denn er ist ein Literat, der den Unterschied macht, auch über seinen Tod hinaus. Seine Literatur wird gebraucht. Seine Literatur ist jung. Sie wird nicht sterben.

 

Tobias Kiwitt

 

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